Vorab: Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt.

In erster Linie bringen wohl die meisten Menschen das Wort Zettelwirtschaft in Verbindung mit der Unordnung von einzelnen Papieren. In dem vorliegenden Buch von Markus Krajewski geht es nicht um die Unordnung, sondern vielmehr um eine mühevoll entwickelte „Maschine“ namens Kartei (= geordnete Sammlung von Daten auf dem einheitlichem Träger Karteikarte), welche die Verarbeitung und Speicherung von großen Datenmengen mit Hilfe von Standardisierungen ermöglicht.

„Kleinhirn im Weltformat.“ (S. 135)

Selten habe ich ein Buch mit einer solch detiallierten Einleitung gesehen. Sie führt gut in das Thema ein und bietet Zusammenfassungen aller Kapitel. Das Buch fordert von seinen Leserinnen und Lesern etwas Konzentration. Konventionelles Fachvokabular wird mit geläufigen Englischen Begriffen beschrieben, so wird die Verbindung zur Gegenwart hergestellt. Zahlreiche Anmerkungen am Ende des Buches sowie ein beachtliches Literaturverzeichnis bieten die Möglichkeit, sich in unterschiedliche, verwandte Themen einzulesen.

Markus Krajewski beginnt – wie erwartet – bei den Anfägen und berichtet von einer regelrechten Bücherflut im Mittelalter und den ersten Versuchen, diese mit Hilfe von Bandkatalogen zu systematisieren; die ersten konventionellen Bibliografien (= eigenständige Verzeichnisse von Literaturnachweisen in einem Buchband) wurden erstellt und waren hauptsächlich  den mönchischen Gelehrten bzw. den Bibliothekaren zugänglich.

In der „ZettelWirtschaft“ lassen sich – anhand von zum Teil bisher unveröffentlichtem Archivmaterial – auch kulturgeschichtliche und politische Hintergründe und Begebenheiten erfahren. Ein Beispiel dafür wären sogenannte Conscriptionsnummern an den Häusern zur Erfassung der männlichen Bevölkerung wegen des verpflichtenden Wehrdienstes (Wien um 1770); später entwickelten sich daraus unsere heutigen Haus- bzw. Türnummern.

Schritt für Schritt können Bibliothekarinnen, Bibliothekare und andere Interesierte die Entwicklung von Bandkatalog zum Zettelkatalog und schließlich zur Kartei verfolgen und parallel Einblick nehmen in die Entstehung der Preußischen Instruktionen (= altes bibliothekarisches Regelwerk für wissenschaftliche Bibliotheken).

Die Kartei wurde stetig weiterentwickelt, verändert und global verbreitet, und stand später nicht mehr ausschließlich dem Bibliothekspersonal zur Verfügung. Krajewski erklärt in einem Exkurs zur USA beispielsweise auch die Anfänge des berühmten bibliothekarischen Klassifizierungssystems Dewey Decimal Classification mit Eigenschaften wie „unbegrenzte Erweiterbarkeit, allgemeine Verständlichkeit, Eindeutigkeit“ (S. 106) und dessen spätere Einflüsse auf Charles Cutter, Urvater der CutterSanbornNotation.

Exzerpte und Querverweise machten die Kartei zu einer wichtigen Suchmaschine und zu einem – wie Krajewski es nennt – „Kommunikationspartner“ (S. 80) für die Benützerinnen und Benützer. Geschäftsleute erkannten das Potential für den Alltag, und so entstanden Adresskarteien für Firmen, Online-Bestandskataloge für Bibliotheken (OPACs) und zum Beispiel Literaturverwaltungs- und Zitierprogramme. Datenverarbeitung gehört schließlich und endlich auch zu den Grundprinzipien der Computertechnologie.

„Was nützt die sorgfältigste Abschrift, wenn es nicht gelingt, sie in produktive Beziehungen mit anderen Einträgen zu bringen, was nützen seitenlange Exzerpte, wenn sie sich nicht einschreiben in ein Netz von vorformenden Querverbindungen. Dem Abschreiben droht das Schicksal einer jeden Karteileiche, nämlich in Isolation zu verharren, wenn es nicht Kontakt aufnimmt zum übrigen Inhalt. Was also notwendigerweise zu den einzelnen Zetteln hinzukommen muß sind Verbindungen.“ (S. 80)

 

ZettelWirtschaft : die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek
224 Seiten, Broschur, zahlreiche Anm., Literaturver., Abb.
2. korrigierte und erweiterte Auflage, Juli 2017, Reihe: Copyrights, 
Verlag: Kulturverlag Kadmos, Berlin
ISBN: 978-3-86599-214-7
EUR 20,50 (AUT) ; EUR 19,90 (DE)

 

Der Verfasser über sich selbst:
Markus Krajewski ist Professor für Mediengeschichte und -theorie an der Universität Basel. Zu den aktuellen Forschungsgebieten zählen Epistemologien des Randständigen, die Wissensgeschichte der Genauigkeit sowie Medien und Architektur. Buchveröffentlichungen u.a.: Bauformen des Gewissens. Über Fassaden deutscher Nachkriegsarchitektur, Stuttgart, 2016, Lesen Schreiben Denken. Zur wissenschaftlichen Abschlußarbeit in 7 Schritten, UTB, Wien u.a., 2013, Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, Paper Machines. About Cards & Catalogs, 1548–1929, The MIT Press, Cambridge, Mass., 2011, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2006. Außerdem: Autor der elektronischen Literaturverwaltungssoftware »synapsen. Ein hypertextueller Zettelkasten«, www.verzetteln.de/synapsen. Für weitere Informationen: gtm.mewi.unibas.ch.

Quelle: http://www.verzetteln.de/#about, Stand vom 15.01.2018